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Ende dem Deutschland-Bashing (2. Januar 2025)

karinrogalska

Aktualisiert: 2. Jan.

Ist Deutschland auf dem absteigenden Ast oder hat es nur den Anschein? Die Horror-Meldungen jedenfalls häufen sich.


Vor mehr als 20 Jahren habe ich Deutschland erstmals den Rücken gekehrt. Damals war häufig vom kranken Mann Europas die Rede. Heute erlebt diese Zuschreibung ein aus meiner Sicht trauriges Revival, wobei sie die meisten doch wohl eher besorgt stimmt.


Es sei ein Abschied für immer, dachte ich, als ich fortzog. Tatsächlich hat die Bindung an Deutschland nie nachgelassen, wenngleich sie sich deutlich verändert hat. Nach zehn Jahren im Ausland wagte ich eine Art Heimkehr, brach meine Zelte aber nach einem halben Jahrzehnt wieder ab.

Denn ich verstand wohl noch die Sprache der Menschen, allzu häufig aber nicht mehr ihr Denken. Ich war und bin immer wieder von Deutschland und seinen Möglichkeiten begeistert. Meinen Ärger erregen eher die Menschen, die all das nicht zu schätzen wissen.


Ich kann schon nachvollziehen, dass es nicht angenehm ist, Wohlstand schwinden zu sehen. Aber anders als in vielen anderen Ländern, wo etwa der Staat einfach diktiert, was einzelne zu tun oder zu unterlassen haben, wäre Eigeninitiative ein Weg aus der scheinbar übermächtigen Misere. Aber dazu müsste wohl das geschehen, was schon der frühere Bundespräsident Roman Herzog einmal forderte und nie eingetreten ist: ein Ruck durch die Gesellschaft.


Zugegeben, von der Ampel-Koalition hatte auch ich mehr erwartet, warb bei einem Fernsehinterview im Ausland sogar vehement für eine Truppe, von der ich mir frische Impulse erhoffte. Zur Halbzeit der Ampel-Koalition musste ich mir eingestehen, dass ich da wohl zu optimistisch war. Allerdings schmerzte mich der Befund erstaunlich wenig, ich fand und finde ihn eher lehrreich.


Denn: Was war nach 16 Jahren Angela Merkel zu erwarten? Oder personenunabhängig formuliert: Was ist zu erwarten, wenn ein Zugpferd nicht ausgetauscht wird? Jedenfalls kein Ross, dass verlässlich einspringen könnte, fehlt doch allen anderen schlichtweg die Übung.


Eine der wirklich großen Leistungen Angela Merkels war aus meiner Sicht, aus eigener Kraft erkannt zu haben, dass die Zeit des Abschieds gekommen war. Der Rest der Republik hätte sich, so heftig Merkel hier und da auch kritisiert wurde, wohl gern weiter auf sie verlassen, wurde die ehemalige Bundeskanzlerin doch vor allem als Stabilitätsgarantin wahrgenommen.


Sicher, am Ende der Ära Merkel hatten beispielsweise die Vertreter*innen der Opposition im Bundestag wegen der Mehrheitsverhältnisse kaum noch Redezeit. Leidenschaftlich gelebte Demokratie sieht anders aus. Allerdings wäre wohl auch niemand aufgestanden, um mehr praktische Übung für die Abgeordneten etwa im politischen Diskurs zu fordern.


All das rächte sich schmerzlich. Immer wieder wurde beklagt, die Ampel-Koalition stimme sich untereinander nicht ab, kommuniziere nach außen chaotisch und verschleppe so wichtige Vorhaben. Entweder seien nicht alle eigenen Leute oder eben das Volk nicht an Bord geholt.


Aber warum sollte man sich eigentlich wundern? In der Ampel-Koalition waren und sind zumeist politisch Langgediente versammelt, ob sie zuvor aber tatsächlich in konstruktivem politischen Diskurs erprobt waren, ließ und lässt sich ob des, übrigens demokratisch zustande gekommenen, vorherigen Stillstands über mehr als ein Jahrzehnt, entschieden anzweifeln. Hier muss wohl erst wieder eine zukunftsfähige Praxis entstehen.


Was für die Volksvertreter*innen gilt, lässt sich auch aufs Volk selbst ummünzen. Mehr wohl noch als zuzeiten Helmut Kohls schien unter Angela Merkel Wohlstand gefühlt sicher. Diskussionen etwa über die Notwendigkeit einer durchgreifenden Modernisierung von Infrastruktur ließen sich mit dem Verweis auf das vermeintlich ewig erfolgreiche deutsche Modell schienen damit von vornherein überflüssig. Deutschland, das beispielsweise viele glänzende Ingenieur*innen hervorgebracht hat, galt auch in der allgemeinen Wahrnehmung als unangefochtener technologischer Vorreiter, gewissermaßen als wirtschaftlicher Selbstläufer. Das rächt sich jetzt bitter.


Und sind es sicher auch die Bürger*innen, die noch nicht in der Gegenwart angekommen sind. Es ist sehr leicht, in das Klagelied vom kranken Mann Europas einzustimmen. Die wenigsten Krankheiten, vor allem chronische, kommen jedoch über Nacht, vielmehr breiten sie sich schleichend aus.


Oder anders: Der Abstieg Deutschlands, von dem jetzt so oft die Rede ist und den ich persönlich viel lieber "schlichtweg nicht mehr aufschiebbaren Wandel" nenne, hat nicht erst Ende 2021 begonnen, er ist da erst sichtbar geworden. Angeschlagen war Deutschland vorher schon, man denke nur an die Bildungsmisere, die Defizite bei der Modernisierung des Verkehrs oder das Verharren im analogen technischen Mittelalter.


Was zu tun wäre? Einzelne schieben keine Großprojekte an, das ist wohl wahr. Aber einzelne können sehr wohl an ihr Land glauben. Deutschland ist vielerorts veraltet, aber nicht verrottet, es ließe sich wieder etwas daraus machen. Damit sei hier auf keinen Fall ins Horn von Populisten gestoßen, die, seien sie vor allem rechts oder links, zwar großspurig das Wohl des Landes im Munde führen, aber vor allem auf ihr eigenes Fortkommen bedacht sind.


Es bräuchte einen neu ausgehandelten, langfristig tragfähigen Gesellschaftsvertrag, der tatsächlich eine allgemeine Angelegenheit wäre. Auch der liegt nicht nicht von heute auf morgen auf dem Tisch. Eines ließe sich aber auf jeden Fall sofort von allen meistern: dem allgegenwärtigen Deutschland-Bashing ein Ende setzen. Denn ein Land ist nicht deshalb schlecht, weil viel zu tun ist. Es wandelt sich vor allem dann nicht zum Guten, wenn es permanent gedanklich niedergemacht und schlechtgeredet wird.







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